Besuch in Kirakuna

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Wir spazierten durch den Wald. Es schien, als wären alle seine Bewohner herbeigekommen, uns zu begrüssen. Die Bäume standen ehrwürdig da mit ihren dunklen Stämmen, schweigend ins Gespräch vertieft, lächelten und sahen uns wohlwollend zu. In einem hellgelben Sonnenstrahl tanzten tausende kleiner, glitzernder Eiskristalle: ein leise wehender Feenschleier, der bis zum Boden reichte. Wir spazierten durch das Waldhaus, von einem Saal in den nächsten. Alle die da wohnten, hatten auf uns gewartet, begrüssten uns mit Freude und boten uns Gastfreundschaft. Allein, es war zu kalt zum Bleiben. Sie waren deshalb nicht verstimmt, nickten nur verständnisvoll, schauten uns anerkennend nach. Dass wir uns in diese Kälte hinausgewagt hatten!

Wir traten in den nächsten Raum. Nicht von Anfang an bemerkte ich, weshalb er so farblos und tot wirkte. Der Boden war auf einmal ganz weich, federte bei jedem Schritt. Wir gingen auf grünen Tannzweigen. Ganz bedeckt war die Erde davon. Kein braunes Fleckchen war zu sehen. Plötzlich sah ich einen frisch abgesägten, blutenden Baumstrunk vor mir. Ich hob den Blick. Da waren noch mehr. Es roch nach Harz, trotz der Kälte. Überall Sägemehl, aufeinander geschichtete, nackte Baumstämme. Das also war der neue Waldsaum, den die Menschenkinder gestalten wollten. Den sie hinter dem Schreibtisch und vor dem Computer, nach neuesten Erkenntnissen geplant hatten und jetzt umsetzten.

Die Bäume des neuen Waldrandes waren ihrer Aufgabe nicht gewachsen. Früher im Waldesinneren hatten sie im unteren Bereich keine Äste gebraucht. Sie wären ihnen nur hinderlich gewesen. Jetzt aber standen sie ein bisschen verloren und hilflos da. Nackt und schutzlos, und das würde so bleiben. Sie waren zu alt, um so weit unten noch Äste nachwachsen zu lassen.
Was hatten sich die Leute nur dabei gedacht? Keine niedrigen Büsche, keine fachgerechte Waldrandbepflanzung könnte die Wunde füllen, die sie in ihrer Unwissenheit dem Waldreich zugefügt hatten.
„Und ich kann sie euch auch nicht verbinden“, sagte ich traurig, „kann nichts für euch tun, die ihr mir immer so wohl tatet und kann euch das Leben nicht zurückgeben.“

Ein paar Schritte weiter, in einem neuen Zimmer, schien das Waldhaus ganz das alte. Vielleicht ein bisschen schweigsamer, ein wenig stiller. Aber sonst stand es da, als wäre nichts passiert. Wir gingen durch den Fitnessraum, in dem immer einige Menschen sind, die ihrer Bestform hinterher laufen. Weiter vorn im Sonnenzimmer fragte mich Duda, ob ich mich nicht täuschte.
„Denkst du nicht, du interpretierst da einfach etwas hinein, je nach Witterung, die du siehst? Denkst du nicht, dass das, was du meinst, an Atmosphäre zu spüren, einfach nur Farben und Stimmungen optischer Art sind? Solche, die man auf Fotos bannen kann, die sich bloss aus den äusseren Lichtbedingungen, aus den Formen der Bäume, der Farbe der Waldwege und aus dem Wetter ergeben?“
„Es könnte doch genau umgekehrt sein, du Zweiflerin“, entgegnete ich. „Es könnte doch sein, dass das, was wir sehen, Ausdruck dessen ist, was wir nicht sehen. Dass also nicht die Dinge, die wir sehen das Empfinden erzeugen, sondern, was wir nicht sehen, aber empfinden können, erzeugt das, was wir sehen.“
Duda schüttelte ein bisschen verwirrt den Kopf.
„Wieder so ne Huhn-Ei-Frage! Ich brauch jetzt eine Tasse Kaffee“, meinte sie, „komm, gehen wir!“ Sie vergrub ihre Hände in den Taschen und wir verliessen Kirakuna durch das westliche Tor.

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